Andreas Mettler
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Tourette Syndrom – Die ganze Wahrheit!

Sei still!
Sei still!

Normalerweise erzähle ich fast alles über mich. Oft sogar über das Internet. Am besten auch über diese Seite hier. Das Leben wird unnötig kompliziert, wenn ich dauernd darüber nachdenken muss, was ich wem schon erzählt habe und was irgendwer nicht wissen sollte. Deshalb beantworte ich auf die Frage „Kannst Du ein Geheimnis für Dich behalten?“ auch gerne mal mit einem klaren „Nein!“

Mein kleines großes Geheimnis

Und doch war da noch etwas in meinem Leben, über das ich über Jahrzehnte mit niemandem gesprochen hatte. Bis vor drei Jahren jedenfalls. Mein kleines großes Geheimnis, von dem nur Menschen wussten, die mich vor mehr als 30 Jahren schon gekannt hatten.

Quieken, grunzen und durch die Gegend hüpfen

Im Alter zwischen 14 und 18 Jahren war es bei mir besonders schlimm: Ich war eigentlich nur noch am quieken und grunzen und musste zwanghaft an die Zimmerdecke springen, um zweimal abzuklatschen. Und das Mäuerchen der Nachbarn musste ich mit der Zunge ablecken. Keiner wusste, warum ich das machte und ich selbst noch am allerwenigsten. Ich wurde dann einer Neurologin vorgeführt, die mir erst EEG-Sonden an den Kopf klebte und mich anschließend einen Baum zeichnen ließ und ein paar Wochen später einem Psychologen, der gleich ein passendes Beruhigungsmittel in der Tasche hatte. Den Begriff „Tourette-Syndrom“ bekam ich damals von beiden nicht zu hören. Diese Diagnose wurde allerdings schon im Jahre 1884 erstmals dokumentiert. Vereinfacht ausgedrückt, lautet sie:

„Wer über einen längeren Zeitraum in bunter Vielfalt motorisch und vokal tickt, hat das Tourette-Syndrom!“

Eine Diagnose, mit der ich damals locker mithalten konnte. Das hat übrigens nichts damit zu tun, durch die Straßen zu laufen und „Ficken!“ und „Heil Hitler!“ zu rufen. Das nennt sich „Koprolalie“, betrifft vielleicht 5% bis 10% der Tourette-Betroffenen und wurde natürlich von der bösen Lügenpresse mit dem Tourette-Syndrom gleichgesetzt.

Heimlich ticcen

Die Schulmedizin hatte mir nichts zu bieten, aber im Alter von 18 Jahren wurde es dann allmählich wieder besser. Ich hatte mir das Meditieren und noch ein paar andere mentale Tricks gegen die Tics beigebracht und wurde allmählich wieder etwas unauffälliger. Eine neue Schule und ein neuer Freundeskreis waren mir eine gute Hilfe, fast ticfrei durch den Tag zu kommen. Wenn ich alleine war (und vor allem auch im Schlaf, was wiederum recht ungewöhnlich unter den Ticcern ist) konnte ich wieder etwas mehr ticcen und alles war gut.

Das war dann auch 30 Jahre lang ok für mich. Aber ein bisschen war das aber auch ein Doppelleben. Was natürlich auch dazu führte, dass ich jeden Tag recht viele Stunden für mich alleine brauchte und tiefergehenden zwischenmenschlichen Beziehungen aus dem Weg ging. Für andere Menschen wäre das vielleicht auch ein größeres Problem gewesen als für mich. Oberflächliche Freundschaften finde ich prima.

Engagement im IVTS

Und dann habe ich auf einmal genau das Gegenteil gemacht: Habe meinen Freunden vom Tourette erzählt und angefangen mich im Interessenverband Tic und Tourette-Syndrom zu engagieren. So paddele ich nun mit jugendlichen Tourettern im Kanu durch den Edersee oder texte in Musikworkshops an Tourette-Hymnen. Die Gehirne der Menschen mit Tourette-Syndrom schwimmen geradezu im Dopamin und so sind diese Begegnungen auch immer das reinste Feuerwerk unfassbarer Kreativität und impulsiver Kräfte, eine ganz neue Ebene der Kommunikation, synchrone Gedankensprünge mit einer regelrechten Tendenz zur Telepathie.

Und heute?

Will man der Schulmedizin glauben, dann ist das Tourette-Syndrom unheilbar. Ich habe mich aber noch nicht entschieden, ob ich der Schulmedizin wirklich glauben will. Auch heute kneife oder blinzele ich mal mit einem Auge oder beiße mir kurz auf die Unterlippe und gebe dabei ein kaum hörbares Geräusch von mir. Das genügt mir inzwischen, um den Druck loszuwerden. Und nur sehr selten werde ich darauf angesprochen. Und wenn, dann meistens von Kindern. Ich mag diese direkte und ehrliche Art junger Menschen. Nun habe ich längst die Übersicht verloren, wem ich schon von diesem Thema erzählt habe. Es interessiert ja auch nicht jeden. Und wer es bis vorhin noch nicht wusste, hat es jetzt gelesen.

Und es fühlt sich ganz gut an, dass ich das geschrieben habe.

geschrieben 2019 von Andreas Mettler. Veröffentlicht: 18.02.2019

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